TRUST # 184 -- Juni/Juli 2017

Nachstehend die von mir für das TRUST # 184 verfassten Besprechungen:

IL MARE DI ROSS – Nulla è per sempre neppure l'inverno

Cagliari, Sardinien, Italien. Verträumter, ab und an mit Sprechgesang angereicherter Postrock, der minutenlang ziemlich belanglos vor sich hin klimpert, um dann in einer dieser Ich-kreisch-mich-bleich-Attacken zu münden. Exotenbonus durch die (konsequenterweise nicht übersetzten) italienischen Lyrics und Props für die zur amitriptylinpflichtigen Grundstimmung der Musik passenden Aufmachung. Screamo im Jahr 2017 hatte ich mir zu Zeiten von „Chaos Is Me“ allerdings irgendwie spannender vorgestellt. (Daniel)
Dingleberry Records u.a.

START A FIRE – Schattenjagd

Stuttgart, BRD. Das gespreizte Gelaber in Zusammenhang mit diesem Album kann einem schon im Vorfeld einiges verleiden. „Konzeptalbum“ heißt es da, „Zitate-Dschungel“, „Gesamtkunstwerk“, „Punkliteratur“. Klingt erstmal nach verkopfter Studentenmucke. Die Lektüre der mit Fußnoten und Quellenangaben gespickten Texte – mit wenigen Ausnahmen allesamt eher kryptischen Charakters – erhärtet den Verdacht. Wäre da nicht die Instrumentalfraktion, die dem Germanistikstudenten am Mikrofon (Unterstellung!) ein handwerklich mehr als solides Fundament mit wirklich wunderbar ballerndem und durch die melodische Emokante auch packenden Post-Hardcore zur Verfügung stellt, ich denke, ich wäre nicht der Einzige, der sich nach drei Songs sagt: „Ich glaub, ich scheiß auf den Schein.“ Spätestens, wenn dann aber an zehnter Position „Die Chance der unbestraften Unmenschlichkeit“ um die Ecke kommt und überraschend klar eine ganze Flut von (politischen) Themen aufs Tableau bringt, ist man dann doch froh, nicht schon nach drei Stücken in den Sack gehauen zu haben. (Daniel)
Twisted Chords Records

MEAT WAVE – The Incessant

Chicago, Illinois, USA. „Incessant“ kommt grob gesagt so, als würden Trans Megetti mit dem Sänger von 31 Knots ins Studio gehen und nach großzügigem Amphetaminkonsum unter der Regie von Jawbox-Mastermind J. Robbins an den Reglern die knackigsten Songs von Hot Snakes aufnehmen. Immer wieder kratzig, spröde und für ein Trio bemerkenswert krachig, haben diese Stücke genug große Melodien, Schmiss und Charakter, um auf vielen Best-Of-2017-Mixtapes herauszustechen. Und das Jahr ist noch jung! Produziert von Steve Albini, fehlt eigentlich nur das Dischord-Logo auf dem Backcover, und das Ding wäre perfekt. Ich glaub, ich werd Fan! (Daniel)
Side One Dummy Records

A HURRICANE’S REVENGE – Stumbling

Trier, BRD. Seit 2007 in Sachen melodischer Punkrock Gainesvillescher Prägung unterwegs und bisher immer stabil geliefert. Fünf Jahre nach dem letzten Album kommt „Stumbling“ nun in einem, na, ich sage mal eher schweinerocklastigen Gewand daher. Mehr Energie, mehr Power, mehr Pathos als der Vorgänger, sicher, aber auch mehr Gitarrengefiedel Typ Classic Rock und mehr von diesen gepressten Vocals, wie man sie von diversen Altherrenrockbands kennt. Unterm Strich zwar durch abwechslungsreiches Songwriting erfolgreich vom Label des ewigen HWM-Clowns emanzipiert, teilweise aber, auch der glatten Produktion geschuldet, mit starkem Kitschfaktor. (Daniel)
Homebound Records

POOL RULES – Demo

Saarbrücken, BRD. Holy moly! Das soll ein Demo sein? Viele Combos bringen nicht mal nach zehn Jahren Bandgeschichte derart gute Songs zustande. Dabei ist es so simpel: Zwei Typen – der eine spielt Gitarre und singt dazu, der andere sitzt hinter der Schießbude – hören Piebald, Lemonheads und Sebadoh auf repeat, gehen ins Studio und nehmen dort fünf Perlen auf, live, versteht sich, die sie dann mit grenzdebilem Artwork auf CDr raushauen. Fluffig, authentisch und herrlich unprätentiös. Bleiben zwei Fragen: Wann kommt das Vinyldebüt? Und wo kann man das vorbestellen? (Daniel)
Last Exit Music

HAUNTING THOUGHTS / QUÄLENDE GEDANKEN – Pika Golob

Leipzig, DDR. Sechs Kurzgeschichten in zwei Sprachen auf zwei Mal fünfzig Seiten, und es geht nur um ein Thema. Das eine Thema, auf das keiner Bock hat und das uns doch alle betrifft, für uns alle zentral ist. Der Tod. La Muerte. Death. Willkommen in der Erzählwelt von Pika Golob. Ja, die in Englisch verfassten und von Lisa Mittag ins Deutsche übertragenen Stories sind tatsächlich so finster, wie man es von der Frontfrau der Electro-Noise-Punkband It’s Everyone Else erwarten durfte. In puncto Stimmung bleibt frau sich also disziplinübergreifend treu. Sprachlich eher auf die Basics reduziert, experimentiert Pika in ihren Short Stories mit interessanten Formen, zum Beispiel dem dialoglastigen Drehbuchformat, und kreiert in jeder Geschichte glaubwürdige Settings mit authentischen Charakteren. Trotz des einenden Grundthemas sind die Erzählungen in ihren Verläufen so unterschiedlich angelegt und mit teils derart überraschenden Enden versehen, dass nie Langeweile aufkommt und man sich als Leser gierig in die nächstfolgende Geschichte stürzt. Ganz am Ende wird’s dann sogar noch mal versöhnlich: Ein Kind sitzt auf einer Wiese, spielt mit Blumen und lacht. (Daniel)
Text/Rahmen